Sie fanden ein kleines Hotel in der Nähe von Clermont l’Herault und blieben eine Woche dort. Beim Abendessen stand ein Liter einheimischer Rotwein breitschultrig auf ihrem Tisch, und die Pommes frites besaßen eine safrangelbe Farbe und eine Weichheit, die sie als eminent französisch erachteten. Vielleicht rührte die Farbe von der Verwendung verbrauchten Frittieröls her; aber wennschon.
Vormittags fuhren sie an kümmerlichen Weingärten vorbei in benachbarte Dörfer, wo sie Kirchen besichtigten, die sich irgendwie interessanter machten, als sie es in Wirklichkeit waren, und dann bummelten sie ein wenig und kauften für das Picknick ein und auch eine Ausgabe des Midi-Libre. Sie fuhren ein Weilchen recht ziellos durch die Gegend, hielten gelegentlich an, damit Ann Wildblumen und Kräutlein pflücken konnte, deren Namen sie nicht kannte und die meist auf der hinteren Ablage des Wagens liegenblieben und verschrumpelten und welkten. Dann fanden sie eine Bar, nahmen einen Aperitif und suchten sich dann einen geschützten Abhang oder eine Lichtung.
Warum dieser Auszug
Ich will ehrlich sein: Im Prinzip habe ich das Buch in irgendeinem Antiquariat oder Brocki in die Hand genommen, weil der Autor Julian Barnes mit einem anderen Buch (The Sense of an Ending) schon ewig auf meiner Leseliste stand. Gekauft habe ich das Buch schliesslich, weil eine der Figuren Ann heisst und ich es mag, wenn mein Name irgendwo gedruckt steht. Manchmal braucht es nicht viel, damit ich an Bord bin.
Warum ich jetzt aber darüber schreibe, ist eine genuine Leseempfehlung, die ich für das Als sie mich noch nicht kannte hier aussprechen möchte – etwas, zu dem mich das eigentliche Barnes-Buch von meiner Leseliste nicht bewogen hat. (Viel schlimmer, ich habe es sogar aus der Bibliothek ausgeliehen, gelesen, vergessen, um es dann zu kaufen und nochmal zu lesen, nur um dann auf Seite 183 zu merken, dass ich es schon mal gelesen habe (aber das ist ein anderes Thema, zu dem ich irgendwann auch noch etwas schreiben möchte…Bücher vergessen…wie krass ist das?))
Jeder, der schon mal versucht hat, eine Postkarte zu schreiben, weiss wie schwierig es ist, das Gefühl von Ferien in Worte zu fassen. Julian Barnes bringt es in diesen zwei Absätzen (vor allem im ersten) perfekt auf den Punkt. Eine Aneinanderreihung von Kleinigkeiten, die der Alltag vermutlich auch en masse bietet, für die aber das Bewusstsein zu beschäftigt oder abgestumpft oder verwöhnt ist, um sie wahrzunehmen. Sie bedeuten während der Ferien die Welt.
Die Passage beschreibt einen Trip nach Südfrankreich, den die Protagonisten Ann und Graham miteinander unternehmen. Die beiden sind zu diesen Zeitpunkt schon einige Zeit verheiratet. Sie hatten sich auf einer Party eines gemeinsamen Freunds kennengelernt, als Graham – Ende 30, Historiker und eher spiessig – noch mit seiner ersten Frau Barbara verheiratet war, mit der er auch eine Tochter hat. Beide sagen ihm wenig und sowohl sein Leben mit ihnen, als auch die Ehe an sich sind einigermassen belanglos, was ihm aber erst auffällt, als er sich in Ann verliebt. Das geschieht langsam und ohne viel Aufhebens, und auch von ihrer Seite «wurde [sie] von der schleichenden Erkenntnis überrascht, dass sie in Graham verliebt war».
Er verlässt seine Familie, lebt mit Ann zusammen, beide heiraten und leben ruhig und glücklich vor sich hin, bis Barbara ihren Ex-Mann bei einem seiner Besuchswochenenden seiner Tochter ins Kino lotst. Im Film spielt auch Ann mit (sie Schauspielerin und hatte einige unwichtige Rollen in kleineren Filmen) und ihre Figur hat einen Seitensprung, der als Szene gezeigt wird.
Der erste Satz des Buchs lautet noch «Als Graham Hendrick seiner Frau das erste Mal beim Ehebruch zusah, da machte es ihm überhaupt nichts aus.» und sobald man den Link gemacht hat, dass es sich bei diesem Ehebruch um die Filmszene handelt, wirkt das auch nicht weiter aufregend, wenn sich in diesem Moment nicht der unglückliche Wendepunkt der Geschichte auftun würde. Ab diesem Kinobesuch geraten die Dinge so dermassen aus der Hand, dass man vor dem Wahnsinn, der im biederen Historiker Graham schlummert, den Hut ziehen muss.
Er entwickelt eine abgedrehte Eifersucht auf die Männer, die Ann vor ihm kennengelernt hatte und Beziehungen oder Affären einging. Ausgehend von dem fiktionalen Seitensprung entfacht sich ein Betrugsdenken in ihm, das, wie seine Liebe zu seiner neuen Frau, sich langsam entfaltet. Anfangs sind es noch einigermassen nachvollziehbare Gefühle, wie wenn er Probleme damit hat an Orte zu reisen, die Ann bereits mit ihrem Ex-Freund besucht hat. Doch bald stilisiert sich seine Eifersucht zu einer Verletztheit herauf, als ob die Ann der Vergangenheit bereits Ehebruch an ihm begeht, wenn sie mit jemand anderem zusammen ist.
Es dauert nicht lange, bis er völlig fanatisch wird und sich jeden Film, in dem Ann mitgespielt hat, anschaut. Selbstzerstörerisch schaut er sich vor allem diejenigen Streifen immer und immer wieder an, in denen die Figur, die Ann spielt, in einer Liebesbeziehung ist. Natürlich erzählt er ihr nichts von all dem, aber ihre Ehe bekommt mehr und mehr Schlagseite, da Ann merkt, wie fixiert er auf das Thema der Liebhaber der Vergangenheit ist. Graham tut was er kann, um seine irrationalen Gefühlssprünge loszuwerden und sucht sich Rat bei seinem besten Freund, der die beiden auf der schicksalhaften Party einander vorgestellt hat, doch rutscht immer tiefer in den Wahnsinn. Es kommt wie es kommen muss, die Situation eskaliert schliesslich und das Ende der Eifersucht ist blutig.
Interessiert?
Barnes ist ein meisterhafter Erzähler, der für seine treffenden Formulierungen bekannt ist. Wer in zwei Abschnitten eine so genaue Beschreibung des Ferienalltags zustande bringt, ist nicht nur meisterhaft in der Wortwahl, sondern auch in seinen Beobachtungen. Und in der Transformationsleistung die Beobachtungen so aneinanderzureihen, dass sie vermögen für etwas Grundlegendes zu stehen.
Als sie mich noch nicht kannte ist im Original auf Englisch bereits 1982 erschienen und wurde 1988 auf Deutsch übersetzt. Wie in vielen seiner Bücher thematisiert Barnes die Liebe – und konkret einen ihrer grössten Stolpersteine, die Eifersucht. Es ist grausam faszinierend der Hauptfigur Graham dabei zuzuschauen, wie er seine zweite Chance mit seiner zweiten Frau vermasselt. Wie er als Opfer seiner perfiden Selbstsabotage ihrem Glück den Boden entzieht und ihre Beziehung in ein harziges Miteinander verwandelt, bei dem unausgesprochene Themen und nicht bewältigte Spannungen zum beklemmenden Standard werden.
Doch ein weiteres Thema, das noch spannender ist als dieses Schaufenster in Grahams Wahnsinn, ist die Frage der Moral, die Eifersucht automatisch aufwirft. Wie fair ist es, auf Vergangenes eifersüchtig zu sein, bevor man sich überhaupt kannte? Gibt es bei Eifersucht überhaupt Fairness? Und kann es sich Graham überhaupt herausnehmen, eifersüchtig sein, der er seine Ex-Frau Barbara ja selbst betrogen hat? Hat er verdient, dass es ihm jetzt so ergeht? Hätte Ann ihre Finger vom verheirateten Familienvater lassen sollen? Geschieht es ihr nun Recht, dass ihre Ehe vor die Hunde geht? Ist das Ende, das die Geschichte nimmt, das verdiente?
In der Liebe ist alles wahr und falsch zugleich; sie ist das einzige Thema, über das man unmöglich Absurdes sagen kann.
Nicolas de Chamfort
Hier kannst du das Buch kaufen.
Wer noch mehr wissen möchte
Julian Barnes kommt morgen Freitag, 12. Juli 2019, ans Openair Literaturfestival in Zürich und stellt seinen neuen Roman Die einzige Geschichte vor. Und ja, es geht auch diesmal um die Liebe: «Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden, oder weniger lieben und weniger leiden?», steht am Anfang der Geschichte. Wenn das Wetter hält, findet der Abend mit Lesung und Autorengespräch im märchenhaften Setting des Alten Botanischen Gartens statt. Falls das Züri-Sommerwetter wieder zuschlägt, wird die Veranstaltung ins Kaufleuten verlegt.