Human Flow von Ai Weiwei

 

Wir alle kennen das: Weihnachten sollte eigentlich eine Zeit der Besinnung sein. Es sollte um Barmherzigkeit, Liebe und Fürsorge gehen. Stattdessen rennen wir alle wie Verrückte von einem Laden zum nächsten und zerbrechen uns den Kopf darüber, ob wir das alljährliche Geschenkebudget doch noch sprengen sollen, um vorprogrammierte enttäuschte Gesichter zu vermeiden. Alles ist teuer, alles glitzert, alles hat einen Markennamen. Gleichzeitig wurden während der diesjährigen Adventszeit zehn Kinder mit ihren Müttern und Vätern aus der Notunterkunft für Asylbewerber in der Gemeinde Adliswil von der Kantonspolizei Zürich abgeholt und ausgeschafft.

Sein Herz pocht für Menschenrechtsthemen

Vor diesem Hintergrund habe ich mich dazu entschieden, mir endlich Zeit für den neusten Ai Weiwei Film Human Flow zu nehmen. Auszeit. Stop. Vor lauter Weihnachtstrubel mal wieder die Notbremse ziehen und den Blick auf das Wesentliche fokussieren.

Nach Ai Weiwei: Never Sorry ist das der neuste Dokumentarfilm des chinesischen Kunst-Superstars über die Flüchtlingskrise. Wer könnte besser dafür geeignet sein, ein ästhetisches Werk über das brisanteste Thema auf der aktuellen europäischen Polit-Agenda zu schaffen als er? Ai Weiwei ist bekannt dafür, Kunst als Medium für sein politisches Engagement zu benutzen. Und nicht zuletzt scheut er sich vor keiner regimekritischen Äusserung gegenüber Peking. Was ihn selbst zum Heimatlosen gemacht hat. Seit 2015 lebt er in Berlin im Exil und betreibt ein Mega-Studio mit einer Armee an Mitarbeitern und Assistenten. Er bekommt Gastprofessuren an Kunstakademien angeboten. Die Museen erfüllen ihm jeden Wunsch. Die Medien und das Publikum lieben ihn. Ein Traum für jeden Künstler und Geflüchteten. Doch davon lässt er sich nicht beirren. Sein gebrochenes Herz pocht weiterhin für Menschenrechtsthemen. Für die grossen Fragen nach Würde, Zugehörigkeit und Respekt.

 

In 140 Minuten rund um den Globus 

Pünktlich um 11:15 stand ich am 23. Dezember im Kino Kosmos. Bereit für die nächsten 140 Minuten über die grösste Migrationswelle in Europa seit dem zweiten Weltkrieg. Während dieser 140 Minuten wurde ich unter anderem von Lesbos nach Idomeni, von Calais nach Jordanien, von Mexiko in den den Gazastreifen und von Kenya nach Mosul transportiert. Und während dieser 140 Minuten merkte ich, dass Ai Weiwei mit dem Film vor allem eins bei den Zuschauern erreichen will: Betroffenheit. Durch die Nähe, die er dank Handyaufnahmen schafft, und in Kombination mit hoch-ästhetischen Drohnenbildern, durch die Unterlegung mit Zitaten von syrischen und kurdischen Poeten und durch das Einblenden von Schlagzeilen aus den Medien will er mit allen Mitteln versuchen, den Zuschauern die Augen zu öffnen. Die emotionale Bildsprache wird mit Fakten unterlegt und soll so ein Gefühl der Identifikation und damit der Verantwortung auslösen. Ein bisschen hat mich das an die humanistische Fotografie des letzten Jahrhunderts erinnert.

Was Ai Weiwei und Henri Cartier-Bresson gemeinsam haben

1947 wurde in Paris rund um Henri Cartier-Bresson die Photoagentur Magnum Photos gegründet, was auch die Geburtsstunde für die humanistisch gesinnte Dokumentarfotografie war: Die Grösse des Menschen stets im grössten Leid zeigend, die Krisen menschlicher Existenz ins Bewusstsein der Nicht-Involvierten rückend und dergestalt an Teilhabe, Empathie und Verantwortung appellierend. Es gilt, die Menschen aufzuklären und zur Verantwortung zu erziehen, ohne die tragischen und ekelerregenden Seiten der Wirklichkeit zu ignorieren. Alles verpackt in einem technisch hochstehenden und ästhetisch ansprechenden Kunstwerk.

 

Die Verantwortlichkeits-Kapazität eines jeden

An diesem Punkt schliesst sich der Kreis und wir kommen wieder an den Anfang dieses Beitrages: Der ideale Rezipient der humanistischen Fotografie und somit des Films Human Flow ist ein All-Involvierter. Er ist indirekt verantwortlich für Ereignisse an Orten, die fern seiner Umgebung und Zeit liegen. Etwa als Sachse für die Kriege in Indochina oder als Appenzeller für die Dürren in Andalusien. Der Philosoph Leszek Kolakowski mokierte sich in den 70er Jahren über diesen Anspruch der All-Verantwortlichkeit. Es impliziere nämlich letztlich nichts anderes als die Aufhebung jeglicher Verantwortung. In anderen Worten: Die Total-Überforderung, der wir im Film ausgesetzt werden, führt letztlich zu einer Blockade. Wir können einfach nicht für so vieles verantwortlich gemacht werden. Jeder Mensch hat wohl eine Verantwortlichkeits-Kapazität, die nicht überschritten werden kann. Der Film Human Flow wird somit eher sein Ziel, Betroffenheit auszulösen, verfehlen. Denn wer wird, ganz ehrlich, danach nach Hause gehen und wirklich etwas gegen das Elend der Flüchtlingskrise tun? Es ist sicher der erste Schritt, von Würde, Zugehörigkeit und Respekt zu predigen. Doch das sind alles Makro-Begriffe, die sich auf der Mikro-Ebene nur schwierig umsetzen lassen. Und gerade kurz vor Weihnachten, wo alle noch in die Läden rennen und gleichzeitig das Geschäftsjahr abschliessen müssen, wird man sich wohl kaum für eine gute Tat motivieren lassen (mit Ausnahme einer Spenden-Transaktion vielleicht). Was ja sowieso völlig paradox ist.

Fehlendes Storytelling wird durch Superstar-Status wettgemacht

Abschliessend lässt sich sagen, dass Ai Weiwei mit dem Film Human Flow ein ästhetisches Werk geschaffen hat, das eine Vielzahl an Schlüsselereignissen und -orten der aktuellen Flüchtlingskrise auf emotionale Art abdeckt. Trotzdem hätte ich ein stärkeres Storytelling erwartet. Man wird regelrecht von Informationen überflutet. Ein Einzelschicksal als roter Faden durch die vielen Orte und Zeitpunkte hindurch hätte sicher geholfen, die fragmentierten Ereignisse in einen Gesamtkontext zu stellen. Bemerkenswert ist aber, dass Ai Weiwei mit seinem Team wohl seinen Superstar-Status dafür eingesetzt hat, um sich einen privilegierten Zugang zu Flüchtlingslagern, Grenzabsperrungen, Militärstützpunkten und zu hochrangigen UNO-Beamten rund um den Globus zu verschaffen. Das Material, das es in Human Flow zu sehen gibt, ist also höchst wertvoll. Und das ist ihm wirklich hoch anzurechnen. Sehenswert ist der Dokumentarfilm somit auf jeden Fall.


 

Wer sich nicht von der Überforderung der All-Verantwortlichkeit abschrecken lassen will, hier ein paar Ideen, um sich für Flüchtlinge zu engagieren:

  • Homeasyl und Wegeleben sind Plattformen, auf denen aufgenommene Flüchtlinge als Mitbewohner vermittelt werden. Dabei geht es darum, dass kein Paralleluniversum fernab von Austausch entsteht.
  • Dank Gmeinsam Znacht können Einheimische Geflüchtete zum gemeinsamen Abendessen einladen. Das Motto: Alle Menschen können während eines Essens zusammen Gesprächsstoff finden! Auch hier steht der Austausch im Vordergrund.
  • STAND UP FOR REFUGEES (SUFR) ist eine private gemeinnützige Organisation und  koordiniert seit 2015 Sachspenden und Hilfsgütertransporte für Flüchtlinge in den Krisengebieten und auf der Fluchtroute. Die Organisation ist auf Spenden, zusätzliche Räume und weitere Freiwillige angewiesen.

Weitere Möglichkeiten finden sich auf der Webseite der Schweizerischen Flüchtingshilfe.


 

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