Hagard von Lukas Bärfuss

 

Gestern war er einer wie sie. Heute verachtet er die Menschen. Er ist getrennt von ihnen und wird nie zu diesem Zug gehören. Sie glauben sich in Konkurrenz, einer zum anderen, und dieser Glaube treibt sie an, in Wahrheit dienen sie der einen, gleichen Sache, einer Sache, die für ihn verloren ist.

Noch nie hat er sie so gesehen. Sie sind satt, aber sie schlafen noch. Sie schlafen immer. Er ist ausgehungert, ja, übernächtigt, blank, nass aber er ist wach. Wach für den leisesten Ton, für das schwächste Licht, für die grösste Nebensächlichkeit.

Er vernimmt das Wispern aus ihren Kopfhörern, hört die Worte, Stimmen, die jeden an seinen Bestimmungsort leiten. Er sieht das Licht in den Hauseingängen, die Wurfprospekte, die herumliegen. Die Lampen fleckig von zerdrückten Mücken. Spiegelfronten reflektieren Gestalten, die über die Mondlandschaft des Asphalts in Richtung Bahnhof gehen, wo sie in die Neonkälte der Unterführung tauchen und sich in drei Stränge teilen – rechts, links, und geradeaus zu den hinteren Treppen. Die Menschen scheinen ihn nicht zu bemerken, den Mann, der unter ihnen ist und nicht zu ihnen gehört […]


 

Warum dieser Auszug?

Der Auszug beschreibt diesen verstörenden und zugleich wundersamen Moment, wenn man an einem Wochentag am Bahnsteig steht und wie gewohnt auf den 07:58 Zug mit einem Becher heissen Kaffee in der Hand wartet. Und plötzlich: Ein Geistesblitz durchrüttelt die Seele. Aus dem nichts durchdringt die frische Frühlingsluft nicht mehr nur die Nasenflügel, sondern das ganze Bewusstsein. Plötzlich schmeckt man etwas. Man ist da. Plötzlich wach, und begreift, dass man lebt. Dass man ein Lebewesen ist. Man schaut sich um und gehört nicht mehr zu diesen anderen Gestalten, die ebenfalls auf den 07:58 Zug warten.

In diesen wenigen Sekunden, bevor die Pendlerwagen einfahren, nimmt man am Leben teil, und zwar in einer solch tiefgehenden Bewusstheit, dass man aus Rührung in Tränen ausbrechen könnte. Es braucht Erschütterung, um lebendig zu bleiben. Man muss regelmässig aus dem Leben gerissen werden, um überhaupt am Leben teilhaben zu können.


 

Interessiert?

Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss hat auf seinen neusten Roman Hagard lange warten lassen: Bereits für das Frühjahr 2016 war es angekündigt. Doch das Warten hat sich gelohnt, denn das 173 seitige Werk ist voll von “existenzieller Wucht und sprachlicher Schönheit”, wie der Literaturkritiker Manfred Papst sagt (NZZ am Sonntag, 26.02.2017).


Kurz zusammengefasst geht es um einen Geschäftsmann, der in der Immobilienbranche tätig ist und mit beiden Beinen voll im Leben steht. Aus unerklärlichen Gründen lässt er sich auf dem Weg zu einem Geschäftstermin von einer Trägerin blauer Ballerinas ablenken, die an ihm vorbeigeht. Ohne sich viel dabei zu überlegen, fängt er an, der Frau zur folgen, die er nie zu Gesicht bekommen wird. “Nur noch bis hierhin, nur noch ein bisschen weiter.”, heisst es. Und schon gerät Philip, der Geschäftsmann, ausser Kontrolle. Er kann nicht mehr aufhören, der Frau zu folgen. Realität und Gedankenwelt fangen sich allmählich an, zu vermischen.

Hier kannst du es kaufen, auch als ebook.

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