Müdigkeitsgesellschaft von Byung-Chul Han

 

An die Stelle des Fremdzwanges tritt ein Selbstzwang, der sich als Freiheit gibt. Diese Entwicklung hängt eng mit dem kapitalistischen Produktionsverhältnis zusammen. Ab einem bestimmten Produktionsniveau ist die Selbstausbeutung wesentlich effizienter, viel leistungsstärker als die Fremdausbeutung, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht. Die Leistungsgesellschaft ist eine Gesellschaft der Selbstausbeutung. Das Leistungssubjekt beutet sich selbst aus.


 

Warum dieser Auszug?

Heute, am 5. Mai 2018, würde der Philosoph Karl Marx 200 Jahre alt werden. 1883 starb er völlig verarmt, staatenlos und unbeachtet in London und hinterliess seinem besten Freund (und Sponsoren), Friedrich Engels, seinen Nachlass. Er hätte nicht im Entferntesten ahnen können, welchen Einfluss seine Texte wie Das Kapital und das Manifest der kommunistischen Partei posthum auf den Lauf der Welt nehmen würden. Seine Kritik der politischen Ökonomie, der Bourgeoisie (in die er selbst hineingeboren wurde) und der Religion und seine Gedanken über den Klassenkampf und über die Entfremdung der Arbeit  fanden einen Nährboden in der ehemaligen Sowjetunion, in der DDR, in China, in Vietnam und in Kuba. Fakt ist heute: Der eiserne Vorhang ist gefallen. Der Kommunismus hat versagt. Seine Schriften haben zweifellos massiven Schaden angerichtet – jene, die seither unter Berufung auf Marx irgendwo auf der Welt eine Revolution anzettelten, sind als Diktatoren und Massenmörder in die Geschichtsbücher eingegangen.

Doch seine Schriften sind in der Anwendung deformiert und instrumentalisiert worden. Ihm selbst lag die Praxis fern, er war ein Arbeiter im Dienste der philosophischen Theorie. Deswegen verdienen seine Schriften eine zweite Lektüre. Vor allem, weil das eigentliche Gedankengut von Karl Marx heute an unwahrscheinlicher Aktualität gewonnen hat: Leistungsgesellschaft, Monopolisierung (Google), Sharing Economy, Finanzkrise, unbezahlte Arbeit (die grösstenteils von Frauen erledigt wird), Grundeinkommen, Produktionsfaktoren wie Roboter und Individualismus sind alles Themen, die aus der Marx’schen Optik abgehandelt werden können. Paul Mason spricht in seinem Buch sogar vom postkapitalistischen Zeitalter – auch der Kapitalismus habe versagt.

Klar, Marx’ Schriften sind nicht das grosse Orakel. Man wird darin keine einfachen Antworten finden (das war ja eben der Fehler, dies zu glauben). Aber Marx, der in der Tradition der hegelschen Dialektik gearbeitet hat, bietet zumindest Alternativen. Die Erkenntnis, dass nicht alles so sein muss, wie es ist, ist an sich bereits sehr wertvoll. Anlässlich seines 200. Geburtstages legen wir deswegen unseren kurious-Leser*innen ans Herz, sich ein wenig mit Karl Marx auseinanderzusetzen. Dazu gibt es nun auch unglaublich viele Bücher, Filme und Anlässe. Es muss also nicht gleich Das Kapital sein.

Hier eine Liste dazu:

Und zuletzt, um nochmals Byung-Chul Han zu zitieren:

Überall, wo gearbeitet und produziert wird, sind wir nicht mit Göttern zusammen und selbst göttlich. Die Götter produzieren nicht. Sie arbeiten auch nicht. Vielleicht sollten wir jene Göttlichkeit,  jene göttliche Festlichkeit wieder erlangen, statt Arbeits- und Leistungsknechte zu bleiben. Wir sollten erkennen, dass wir heute jede Festlichkeit verloren haben, indem wir Arbeit, Leistung und Produktion verabsolutieren. 


 

Am 11. und 12. April fanden im Literaturhaus Zürich eine Lesung und eine doppelte Arte-Dokumentarfilmpremiere zum Thema Karls Marx statt. Für unsere Liste haben wir uns hauptsächlich von den Anlässen inspirieren lassen und uns die Bücher bei unserem Lieblings-Bookshop in Zürich Never Stop Reading besorgt.

 

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