Für die Veranstaltung “Poetik der Architektur” vor einer Woche war anfangs das Zürcher Literaturhaus vorgesehen. Wegen der hohen Nachfrage musste die Veranstaltung jedoch an einen Ort mit mehr Platz verschoben werden – in die Augustinerkirche. Könnte es einen passenderen Raum geben, um über den Zusammenhang von Erinnerung, Poetik und Architektur zu sprechen? Wohl kaum, meinte auch Claudia Keller vom Deutschen Seminar der Universität Zürich. “Wir alle kauen immer noch an den schmerzlichen Bildern der brennenden Notre-Dame.”, sagte die Mitorganisatorin des Abends in ihrer mitreissenden Einführungsrede. “Kauen” ist hierbei ein bewusst gewähltes Verb, denn niemand geringeres als Augustinus selbst hat vom Gedächtnis als “Magen der Seele” gesprochen.
Der Promi-Faktor
Doch es würden sich wohl kaum so viele Interessierte für eine so abstrakt betitelte Veranstaltung finden, würden da nicht prominente Namen den Abend anführen: Nämlich Peter Zumthor, der berühmte Schweizer Architekt und Pritzker-Preisträger, und Aleida Assmann, Ägyptologin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin sowie Trägerin des Friedenspreises des deutschten Buchhandels. Die beiden wurden eingeladen, um sich über die vielfältigen Beziehungen zwischen Architektur und Literatur zu unterhalten und über “Erinnerungsräume” nachzudenken.
Zerschmetterte Erwartungen
Neugierig und erwartungsvoll sind Ann und ich also an dem regnerischen Dienstagabend zur Augustinerkirche losgezogen. Uns interessierte das Aufeinandertreffen von zwei scheinbar weit entfernten Welten: Architektur und Erinnerung. Zudem sind eine Aleida Assmann und ein Peter Zumthor nicht alle Tage in Zürich. Eine einmalige Gelegenheit also, um diese beiden Koryphäen (in ihren jeweiligen Themenfeldern) live zu erleben. Doch es sollte ein enttäuschender Abend werden.
Besucherprofil: Aggressive, pensionierte Frauen
Es begann mit der Aggressivität der Besucherschaft, die sich auf den holzig-kantigen Kirchenbänken bereits lange vor Veranstaltungsbeginn breit gemacht hatte und keinerlei Bereitschaft zeigte, für andere Gäste etwas zusammenzurücken. Das Profil: Pensionierte Frauen, die sich aus irgendeinem Grund gegen Jüngere verschworen zu haben schienen. Sie erfanden jegliche Ausreden, um ja keinen Millimeter Platz gewähren zu müssen (diese reichten über nicht-existente Begleitungen, für die sie den Platz freihalten mussten, bis hin zur überlebensnotwendigen Beinfreiheit, auf die sie grundsätzlich Anspruch erhoben). Und das, obwohl klar angeschrieben stand, dass es pro Bank für acht Personen Platz hätte (fünf sassen jeweils da, wohlgemerkt). Als wir uns aus Verzweiflung wegen offensichtlichem Platzmangel und bevorstehendem Veranstaltungsbeginn zwischen die Frauen drängten, wurden wir masslos angepöbelt.
Wir schlugen uns tapfer durch die zweistündige Veranstaltung und verweilten stramm und reglos auf der harten Bank, um den Frauen um uns herum ja keinen Grund zur Aufregung zu geben. Trotzdem wurden wir ständig mit bösen Blicken bestraft, begleitet von einem erniedrigenden Kopfschütteln. Eine an Absurdität grenzende Erfahrung, bei der wir uns fragten: Woher kommt diese Feindseligkeit? Gerade von Menschen, die sich für ein Thema wie “Poetik der Architektur” interessieren. Wo bleibt die Freude am gemeinsamen Interesse, das über die Generationengrenzen hinaus zu gehen und offensichtlich unterschiedliche Menschen zu verbinden vermag? Wir haben uns jedenfalls nicht einmal getraut, unser Smartphone zu Fotozwecken einzusetzen, da wir bei der geringsten Regung angezischt wurden. Der Beitrag ist entsprechend fotoarm geworden.
Der Groupie-Faktor
Doch dabei sollte es nicht bleiben: Die Damen um uns herum stellten sich als Zumthor-Groupies heraus. Während Ann und ich zu verstehen versuchten, warum eigentlich Aleida Assmann die Rolle der Moderatorin übernommen hatte, obwohl im Veranstaltungsbeschrieb von einem gleichberechtigten Gespräch zwischen beiden Diskutanten die Rede war, lachten die Frauen bei jedem paternalistischen Schenkelklopfer-Witz des Architekten. Auf der Bühne fand ein Mansplaining par excellence statt, und die pensionierten Besucherinnen erfreuten sich darüber, den scharfsinnigen Intellekt Zumthors durchschaut zu haben.
Aber immerhin, gegen Ende der Veranstaltung wollte Zumthor seinem Gegenüber auch noch eine Frage stellen. Endlich, dachten wir, kommt einmal Aleida Assmann zum Zuge. Er wollte von ihr wissen, an welchem Gebäude aus ihrer Jugend am meisten Erinnerungen hängen würden. Was für eine plumpe Frage! Entsprechend unbeholfen antwortete Assmann darauf. Verständlich, da dies eine rein persönliche Frage ist, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hat. Wir atmeten aber trotzdem auf, denn wir dachten schon, er würde Assmann fragen, welche seiner Bauten sie am geilsten fände. So Zumthor-zentriert kam uns der ganze Abend vor.
Mit Akribie und Treue an die Dinge halten
Entsprechend stark stand die Arbeit Zumthors im Fokus, oder genauer gesagt: Seine Arbeitsweise. Er selbst sehe sich eher als Autor denn als Architekt, was allemal eine interessante Sichtweise ist. Seine Architektur sei lediglich der Ausdruck seiner Autorenschaft, oder, wie er es gerne nennt, seiner Kompositionstätigkeit. Dabei geht es ihm vielmehr darum „ein Gefühl für die Dinge zu schaffen, die abwesend sind, als ein Gefühl für die Anwesenheit verlorener Dinge.“ Und genau hier, so Claudia Keller, setzt die Poetik der Architektur ein: Sie entsteht dort, wo Imagination gefordert ist. Statt illusorische Anwesenheit ermöglicht sie eine Ahnung für das Abwesende, als Erfahrung in der Gegenwart. Für die intensivierte Wahrnehmung, die dies erfordert, ist die Literatur das Vorbild. Sie lässt uns mit ihren Beschreibungen genauer sehen und Dinge entdecken. Zumthor verriet, dass er gerne William Carlos Williams, Peter Handke, Inger Christensen, Friederike Mayröcker oder Gianna Molinari liest, weil sie sich mit eben dieser „Akribie und Treue an die Dinge halten“.
Lessons learned
Zwei Botschaften konnten wir für uns aus der Veranstaltung mitnehmen: Aleida Assmann hat sich auf den Abend bestens vorbereitet und sich ausgiebig mit der Arbeit, beziehungsweise mit der Arbeitsweise ihres Gegenübers auseinandergesetzt. Sie hat ihm gute Fragen gestellt, und die Einblicke, die sich daraus boten, waren entsprechend interessant und anregend. Aber leider blieb es auch dabei, denn es wurden keinerlei unangenehme Fragen an ihn gerichtet. Und das führt uns zur zweiten Botschaft: Es war eine einzige Huldigung Zumthor gegenüber. Dass man beispielsweise nur über seine “Meisterwerke” und “Geniestreiche” gesprochen, aber elegant das heikle Thema “Topographie des Terrors” umgangen hat, war bezeichnend dafür. Das Ungleichgewicht zwischen beiden Diskutanten konnte nicht an Zumthors Unbeholfenheit liegen, die aus seiner künstlerisch bedingten Abneigung vor grossem Publikum aufzutreten entspringt. Er war schlicht unvorbereitet, was auf Arroganz oder zumindest auf unprofessionelles Verhalten schliessen lässt. Zumthor konnte Assmann nicht mit gleichwertigen Fragen und somit auch nicht auf Augenhöhe begegnen. Er hat sich, um es in seinen Worten zu sagen, nicht mit Akribie und Treue an die Dinge gehalten. Das wohlwollende, unkritische Zunicken der aggressiven Besucherinnen kam uns in diesem Licht umso lächerlicher vor.
Das erhoffte Aufeinandertreffen zweier Welten blieb leider aus. Schade, denn wir hätten gerne mehr von Aleida Assmanns Sicht auf die Dinge erfahren.
Der ganze Abend war so gesehen also ein kleiner Reminder an uns und an die Welt: Be nice or leave.
Wer mehr über Aleida Assmanns Arbeit erfahren möchte, dem/der empfehlen wir diesen Artikel in der Zeit anlässlich der Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutsche Buchhandels oder das Buch Erinnerungsräume – Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses.