Tipps über die Weihnachtsfeiertage


An Weihnachten passiert vor allem eins: Nichts. Die Büros und Geschäfte sind geschlossen, die Einkäufe wurden bereits erledigt und die aufgeregten Gemüter kommen langsam zur Ruhe. Erst kürzlich fühlte es sich so an, als würde sich die Erdkugel dreimal so schnell um sich selbst drehen wie für gewöhnlich. Die sowieso schon vollen Agenden mussten jede freie Lücke – teilweise auch die Mittagspausen – für Geschenkeinkäufe, Weihnachts-Apéros, und für Abklärungen mit der Buchhaltung hergeben. Man wird mit rasantem Tempo durch den Dezember geschleudert, bis es am Abend des 24. urplötzlich still wird. Die Agenda kann aufatmen. Und man gibt spätestens jetzt all den Leuten Recht, die nicht mehr “frohe” sondern “erholsame” Festtage wünschen. Denn es ist Erholung, die der Geist nach solchen Zehrungen braucht.

In einer global vernetzten, durchkapitalisierten Gesellschaft muss man so ein Gefühl, das mit dem allgemeinen Stillstand einhergeht, erst einmal sacken lassen. Was tun mit all der Zeit? Man wünscht sich zwar ständig etwas Entschleunigung, aber sobald sie sich uns anbietet, werden wir ganz unbeholfen. Deswegen möchten wir euch mit unseren Tipps dabei unterstützen, dass eure Festtage wirklich besinnlich werden. Es geht also nicht darum, die bevorstehenden Frei-Zeiten mit Aktivitäten vollzustopfen, sodass ihr gar nichts mehr von ihnen habt. Sondern es geht darum, die Frei-Zeiten bewusst zu geniessen, einzusaugen und die Seele aus dem Vakuum heraus zu alimentieren. Hier also unsere Tipps:

1. Lesen

Ok ja, dieser Tipp überrascht nicht. Aber einmal ganz ehrlich: Geht auf euer Instagram-Profil und analysiert, wie viel Zeit ihr durchschnittlich auf der App verbringt.

Ihr werdet verblüfft sein, wie viel von eurer kostbarsten Ressource für Instagram drauf geht. Grundsätzlich ist nichts Schlimmes dabei, etwas Zeit darauf zu verbringen. Gefährlich wird es nur, wenn es mehr Zeit wegfrisst, als einem wirklich bewusst ist. Zudem ist der ROI auf die investierte Zeit ziemlich tief. Was hat man am Ende davon? Nicht viel. Folgende Bücher können euch dabei helfen, euch von den Fesseln zu befreien und wieder Herr oder Herrin eurer eigenen Zeit und Aufmerksamkeit zu werden:

1. Die geschenkte Zeit von Andrea Köhler
Ein anregendes Buch über das Warten: Wer es eilig hat, ist hier verkehrt.

2. Müdigkeitsgesellschaft von Byung-Chul Han
Das Buch des deutschen Star-Philosophieprofessors Byung-Chul Han gehört zu den wichtigsten zeitdiagnostischen Essays der letzten Jahre.

3. Flamethrowers von Rachel Kushner
Ein unglaublich poetischer Roman, in dem Zeit beim genaueren Hinschauen die zweite (oder sogar erste?) Hauptrolle spielt.

4. Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche
Für die Hartgesottenen unter euch empfehlen wir das dichterisch-philosophische Hauptwerk von Friedrich Nietzsche. Entfesselung ist hier garantiert, nichts wird mehr sein wie früher.

5. Homo Deus von Yuval Noah Harari
Eine “Geschichte von Morgen” wird in diesem Sachbuch beschrieben. Dabei erfährt man unter anderem, dass Amortalität vielleicht gar nicht mehr so weit weg ist. Was das für unser Zeitempfinden bedeuten mag?

You have time. Meaning don’t use it, but pass through time in patience, waiting for something to come. Prepare for it’s arrival. Don’t rush to meet it. Some people might consider that passivity but I did not. I considered it living.

Flamethrowers Rachel Kushner

2. Kino

Wann seid ihr das letzte Mal gegen die Mittagszeit alleine ins Kino gegangen? Eben. Wozu das gut sein soll? Probiert es aus und ihr werdet sehen, dass es das Entschleunigungs-Erlebnis schlechthin ist. Zudem laufen im Moment drei ausserordentlich schöne Filme im Kino, für die es sich lohnt:

1. Cold War
Pawel Pawlikowski hat lange auf seinen neusten Film warten lassen. Acht Jahre lang habe er am Drehbuch für Cold War gearbeitet. Herausgekommen ist ein filmisches Meisterwerk, ein Augenschmaus. Die Geschichte ist dabei fast zweitrangig und erzählt von einer unmöglichen Liebe im Polen der Nachkriegszeit.

2. Roma
Diese Netflix-Produktion ist nebst Forest Gump einer der einzigen Filme, der es vermag, ganze Herzen einzunehmen. Protagonistin ist die Hausangestellte und Mixtekin Cleo, die bei einer gut situierten Familie im Mexiko der 70er Jahre arbeitet. Der Film zeigt, wie wichtig es ist, dass die unerzählten Geschichten endlich erzählt werden.

3. Shoplifters
Auch Regisseur Hirokazu Koreeda macht es sich zur Aufgabe, den Unbeachteten in einer Gesellschaft ein Gesicht zu geben und ihre Geschichten zu erzählen. Fernab vom wirtschaftlich boomenden Japan wird die Geschichte einer Patchwork-Familie erzählt, die mit Diebstahl und anderen Tricks über die Runden kommt.

Cold War

3. Balthus in der Fondation Beyeler

Bis am 01. Januar ist die Ausstellung “Balthus” in der Fondation Beyeler zu sehen, bevor sie der blauen und rosa Periode von Picasso weichen muss. Die Retrospektive könnte nicht aktueller sein: Die #metoo-Bewegung begann etwa vor einem Jahr. Im Rahmen dessen wurde auch gefordert, dass die “Thérèse rêvant” aus der Sammlung des Metropolitan Museum of Art in New York entfernt werden solle. Dies löste eine umfassende Debatte über die Freiheiten und Grenzen der Kunst aus sowie über die Verantwortung der Museen gegenüber Publikum und Künstler.
Sieht man das Gemälde in der Fondation Beyeler vor sich, erkennt man ganz klar, dass die Anmut und erotische Ausstrahlung des Mädchens vom Maler bewusst akzentuiert wurde. Thérèse existierte übrigens wirklich und war das bevorzugte Modell des Künstlers. Sie hiess Blanchard zum Nachnamen, war zum Entstehungszeitpunkt etwa 12 Jahre alt und wohnte vermutlich in der Nachbarschaft von Balthus’ Atelier. Das entschärft die ganze Sache nicht, im Gegenteil. Die Vermutung, dass sich Balthus seiner Machtposition bediente, um das Mädchen in solchen Posen zu porträtieren, muss wohl bestätigt werden. Kein Mädchen würde sich so vor einem älteren Herrn geben wollen. Das Gemälde ist klar ein Ausdruck patriarchalischer Herrschaftsstrukturen, das zudem voyeuristische und pädophile Züge hat.

Umso wichtiger ist es, sich mit dem Werk von Balthus vertieft auseinanderzusetzen. Dass seine Gemälde nämlich verschiedentlich rezipiert werden können, ist auch wichtiger Teil der ganzen Debatte. Wer das nicht kann oder will, denkt in Schwarz-Weiss und hat bereits verloren. Natürlich entschuldigt nichts das patriarchale Herrschaftssystem, das es zu überwinden gilt. Aber es hilft auch nicht weiter, wenn wir unser moralisches Empfinden, das wir für ungemein überlegen halten, unreflektiert über frühere Wertesysteme überzustülpen versuchen und diese dann einfach auf alle Ewigkeit für ungültig erklären. Es braucht zuerst eine tiefgründige Debatte und eine authentische Auseinandersetzung, einen respektvollen Umgang mit der Vergangenheit.

Man nehme als Beispiel die Beschäftigung mit kindlicher und adoleszenter Sexualität, die nicht bloss eine individuelle Obsession von Balthus war. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war dies auch wissenschaftlicher Gegenstand. Es war vor allem die von Sigmund Freud im frühen 20. Jahrhundert entwickelte Sexualtheorie, die ein neues Verständnis kindlicher und adoleszenter Sexualität verbreitete, das auch im surrealistischen Umfeld kursierte.

Der Körper sei in Balthus Gemälden zudem nicht zur sorglos konsumistischen Betrachtung freigegeben; vielmehr liege die Verantwortung für die Weise des Blickens und die Deutung der Szene beim Betrachter selbst. Kann man sich also fragen, ob die pornographisch-voyeuristische Dimension in Balthus’ Bildern ex post hineininterpretiert wurde und viel mehr über unsere als über die damalige Gesellschaft aussagt?

Zudem eröffnen sich in Balthus’ künstlerischer Konzeption vielfältige Aspekte der Zeit, die in seinem gesamten Schaffen anschaulich werden. In seinem Werk drückt sich ein regelrechter Kult der Kindheit und somit auch eine besondere Affinität für das zeitlich Vergangene aus. Die Figuren in Balthus’ Bildern scheinen aus Langeweile schläfrig oder in etwas versunken und gleichsam aus der Zeit gefallen zu sein. Zustände, die sich oft bei Kindern beobachten lassen und die Balthus “auf alle Ewigkeit hin” festzuhalten versucht. Aber auch Momente der Transition, der Transformation und der “Passagen” interessieren den Künstler ungemein, da sich darin die Zeit und die damit einhergehende Vergänglichkeit am stärksten manifestieren. Kann man so seine Darstellungen von jungen Frauen und Mädchen verstehen? Der Künstler selbst beschreibt die Passage als “diesen ungewissen, wirren Moment, da die Unschuld vollkommen ist und bald einem anderen, klareren, sozialeren Alter Platz machen wird. Die Zeit vor der Zeit, die man entdecken muss.” Kann also sein, dass dem Künstler in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der Zeit am Herzen lag.

4. Nichtstun

Das ist unser letzter Tipp und muss auch nicht gross erklärt werden. Einfach aufs Sofa liegen, auf die weisse Decke starren und Gedanken wie Wolken vorbeiziehen lassen. Und wenn ihr das als Zeitverschwendung empfindet, dann denkt nochmals an Instagram und analysiert spätestens jetzt, wie viel Zeit ihr durchschnittlich darauf verbringt. Keine Ausreden.

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