Schwarzes Licht von Harry Mulisch

 
Doch als dieser Augenblick angebrochen war und es keinen Ausweg mehr gab, da stürzten all die davongezogenen Töne plötzlich wie ein Wolkenbruch herab und ergossen sich über den Platz und über einen großen Teil der Stadt. Vielleicht wären die Menschen nicht so erschrocken gewesen, wenn sie an diese, Tag nicht an allen Straßenecken gelesen hätten: Fürchtet Gott und preist seine Herrlickheit, denn die Stunde seines Urteils ist gekommen – und: Donnerstag, 20. August 1953, das Ende dieser Welt.

Es war, als spielten im Turm nicht hundert, sondern tausend Glocken. Erstarrt saßen die Menschen in dem Geräusch. Zwar dröhnte unverändert der Verkehr – doch niemand beachtete ihn mehr. Alle starrten bestürzt nach oben. Und nicht nur die Fußgänger blieben stehen, auch die Radfahrer stiegen ab und schauten, ihr Gefährt mit einer Hand haltend, nach oben.

Es war, als hätte die unbändig singende Bronze dort oben alle Trägheit des Metalls verloren: Sie spielte und sang und tanzte geschmeidiger als ein Cembalo. Und dann wurde das unvergleichliche Geräuschknäuel plötzlich wieder nach oben, himmelwärts, transportiert, so dass die Frau mit dem Hirn auf einmal Tränen in den Augen hatte; dann stürzte wieder alles hinab in diese oder jene Tiefe, wo es so finster und schrecklich war, dass den Radfahrern die Angstschauder über den Rücken liefen.


 

Warum dieser Auszug?

Als aufgeklärter Mensch glaubt man nicht an plötzliche Weltuntergänge, nicht an das jüngste Gericht, nicht an die Apokalypse. Auch wenn regelmässig das Ende der Welt von verschiedenen Seiten vorausgesagt wird, passiert ist nie etwas. Aber was wäre wenn?

Mit wenigen effektvollen, sprachlichen Kniffen wird in Harry Mulischs Roman an der Stelle oben ein gespenstischer Moment beschrieben. Er scheint unwirklich, bedenkt man, dass sich hier gerade etwas vollzieht, worauf alle die ganze Zeit gewartet haben, ohne wirklich daran zu glauben.

Der einfache Glockenspieler, der der Protagonist des kurzen Romans ist, läutet die Endzeit ein. Er war den ganzen Tag in der Stadt unterwegs, um eine Hand voll Bekannter zu seinem Geburtstagsfest am Abend einzuladen, und alle Figuren verhalten sich irgendwie seltsam an diesem Tag. Die Absurditäten gipfeln in diesem Moment, in dem das Leben erstarrt, wohlwissend, dass sich hier gerade etwas Unheimliches vollzieht.

Die Stelle markiert einen Wendepunkt, von da an geht’s bergab. Das Fest findet statt, gerät aus den Fugen, die Welt geht unter.


 

Interessiert?Harry Mulisch

Schwarzes Licht ist die dritte Publikation, die 1956 vom damals 29-jährigen Harry Mulisch veröffentlicht wird. Sie beschreibt wortgewandt einen einzigen Augusttag 1953, dem Tag, an dem die Welt untergehen soll. Doch eigentlich geht es die meiste Zeit um Maurits Akelei, dem Glockenspieler von Haarlem, der jeden Mittag die Glocken der Kathedrale zum Klingen bringt, und der an diesem unheilvollen Tag Geburtstag hat. Von dem Moment, in dem er die Augen am Morgen aufschlägt, bis zur Feier am Abend versinkt Akelei immer weiter in seiner privaten Verzweiflung. In ihm und um ihn herum gerät alles aus der Bahn, als die Welt dem Ende entgegensteuert.

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