Eli ben Schaul Cohen (*1924) war ein israelischer Spion, der in den frühen 1960er Jahren in Damaskus lebte und umfangreiche Informationen zu syrischen Militäraktivitäten für den Geheimdienst Mossad sammelte. Er gab sich als wohlhabender Geschäftsmann aus und verschaffte sich Zugang zu den politisch a.k.a. militärisch einflussreichsten Kreisen der Hauptstadt, feierte sowohl legendär ausschweifende Partys als auch bahnbrechende Spionageerfolge und ihm wird ein erheblicher Anteil an Israels Sieg im Sechstagekrieg zugeschrieben, durch den die Truppen 1967 den Gazastreifen, den Sinai, das Westjordanland, Ostjerusalem und die Golanhöhen eroberten – und er ist die Grundlage der neuen Netflix-Produktion The Spy.
Seit dem 6. September 2019 ist die sechsteilige Mini-Serie online, jede Folge dauert zwischen 47 und 62 Minuten und sie war schon absurd spannend, bevor ich im Abspann realisierte, dass sie auf wahren Ereignissen beruht.
Am Anfang steht das Ende. Die erste Folge von The Spy beginnt mit verschiedenen Szenen vom 18. Mai 1965: Eine Landebahn im strömenden Regen in der Nähe von Paris; eine unruhig schlafende Frau in der Cohen-Residenz im israelischen Bat Yam schreckt hoch; das Büro des Mossad in Tel Aviv, in dem ein Telefon klingelt und von einem vor sich hinstarrenden Mann ignoriert wird; Militärjeeps, die durch das nächtliche jüdische Ghetto in Damaskus fahren.
Dort wird ein Rabbi aus dem Schlaf geklopft, man sieht ihn kurz darauf über den Händen eines Gefängnisinsassen wachen, deren Nägel vor Kurzem herausgerissen wurden, während er seinen letzten Brief schreibt. Als er ihn unterzeichnen soll, zögert er lange. «My poor boy, you do not remember your name?» Schweigen. «You do not know who you are.» Die Kamera schwenkt endlich auf das Gesicht des Insassen und man erkennt Eli Cohen, die Musik wird lauter, er hebt seinen Kopf und schaut einem Nachtfalter zu, der um das Licht einer Lampe kreist, plötzlich wird das Bild schwarz.
«You do not know who you are»
Was für ein Auftakt! Er enthält eigentlich bereits alles Wichtige, nur ahnen wir das beim ersten Sehen der Bilder noch nicht. Wir lernen die einzelnen Orte kennen, zwischen denen sich die unglaubliche Geschichte, die uns gleich erzählt wird, aufgespannt wird und sehen die zentralen Figuren. Und wir werden mit dem Hauptproblem konfrontiert, das – laut Serie – zum letztlichen Scheitern von Eli Cohen führt. Denn neben der brisanten politischen Dimension, die in der Serie allgegenwärtig ist, ist es der psychische Konflikt dieses Mannes, der uns die Tragweite der Geschichte in der erzählten Geschichte spüren lässt. Nach Jahren des Versteckspiels und der Täuschung weiss er schliesslich nicht mehr wer er ist. Doch was ist das Leben des einzelnen Eli Cohen schon im Vergleich zum Wohl des israelischen Volkes?
Man kann fast nicht umhin, Eli Cohen sypathisch zu finden. Etwas neurotisch zwar, wie er als Buchhalter oder sonst irgendein Bürogummi an seinem Schreibtisch sitzt und im Wettlauf gegen sich selbst die Zahlen von irgendwelchen Zetteln in eine taschenrechnergrosse Maschine hämmert, bevor die Zeiger der Wanduhr auf 12 Uhr springen. Aber doch liebenswert.
Er schafft es und man freut sich, wie man sich freut, wenn Unbekannte zum Bus rennen und ihn doch noch erreichen. Der kurze Moment der Ernüchterung nach diesem Erfolg, als die Kollegen schwatzend an der halboffenen Tür vorbeilaufen und zum Mittagessen gehen, ohne ihn einzuladen, hält nicht lange an. Routiniert packt er seine beiden Brote aus und macht alleine Mittag. Der Mensch gewöhnt sich an alles.
Der zweite oder dritte Biss fördert einen Papierstreifen zu Tage, der im Brot versteckt war. Seine Frau Nadia hat ihm eine kurze Nachricht geschrieben, die genau die richtige Mischung aus Bekundung ihrer bedingungslosen Liebe und scherzhafter Morddrohung ist, um daraus zu schliessen, dass die beiden eine wunderbare Beziehung führen. Aufatmen; also ist der gute Eli gar nicht nur neurotisch, die ignoranten Arbeitskollegen verstehen ihn einfach falsch.
Und so sieht man ihn kurz darauf loseilen, um seiner Frau ein Geschenk ohne Anlass zu besorgen, das sie am Abend überglücklich betont, nicht verdient zu haben. Später, als Eli über Monate für den Mossad im Ausland ist, was Nadia natürlich nicht weiss (so top secret ist die Mission), sagt sie, ihr grösster Traum sei es gewesen, einfach die Frau von Eli Cohen zu sein. Es könnte alles so einfach sein, wenn es nicht sein grösster Traum wäre, ihr das Leben zu bieten, das sie seiner Meinung nach verdient hat. Oh, gut gemeinte Fehler, die man aus Liebe begeht. In der Verbindung zu Nadia wird Cohens bürgerlichem nicht-Spionageleben ein Monument gebaut, das den Preis, den er für sein Land zahlt, verdammt hoch ansetzt.
«I love this country with all my mind»
Doch Eli ist bereit ihn zu zahlen, absolviert die Mossad-Ausbildung in Israel und wird trotz der Bedenken der Zuständigen losgeschickt. Kleine Rückschläge der Mission gleicht der Agent mit riskantem Wagemut und Eifer aus. Doch Eli scheint es zu sehr zu wollen, scheint sich oder der Welt unbedingt etwas beweisen zu müssen. Wenn seiner Frau Nadia sein ganzes Herz gehört, so ist seine Ratio vollends von der Überzeugung eingenommen, dass er keine andere Wahl hat, als seine Mission auszführen und sich in Damaskus eine völlig neue Existenz aufzubauen. Bezeichnend der Satz, den er an einer Stelle äussert: «I love this country with all my mind.»
Eli Cohen wird in The Spy nicht als wankelmütiger Mensch dargestellt, sondern ist ein Mann der Extreme, der nach dem «ganz oder gar nicht» Prinzip funktioniert. Die Zwischentöne entstehen erst durch die Vielschichtigkeit der Anforderungen, die dieses Leben an ihn stellt. Doch hat er es letzten Endes nicht so gewählt? An den Stellen in der Serie, an denen er für einige Wochen in sein altes Leben in Israel zurückkehrt und sein Agentenleben pausiert, scheint er noch die Möglichkeit zu haben, sich gegen eine Rückkehr zu entscheiden. Doch die Erinnerungen an diesen Eli Cohen verblassen mehr und mehr, der Sättigungsgrad der Bilder auch. Die Szenen seines einst so harmonischen Lebens mit Nadia werden im Verlauf der sechs Folgen fast zu schwarz-weissen Sequenzen, so sehr greift die Tristesse, die sein Fehlen auslöst, über.
Man möchte ihm zurufen, dass er nicht gehen soll, doch erst spät dringt die Botschaft auch zu ihm durch, sodass sich die Spionage-Maschinerie nicht mehr stoppen lässt. Theoretisch liesse sie sich schon, er müsste sich nur weigern, doch das Problem der Liebe des «Minds», die er für das Land emfindet, ist ihre unumstössliche Logik. Und wieder fragt man: Was ist das Leben des einzelnen Eli Cohen schon im Vergleich zum Wohl des israelischen Volkes?
All die deepen Themen, die The Spy aufwirft sind in ein so erzählerisch stimmiges Ganzes eingebettet, dass man fast nicht dazu kommt, sie adäquat zu bedenken. Man möchte einfach schnellstmöglich die nächste Folge sehen. Klar liegt das auch am Genre – dieses ganze Geheimagenten-Motiv wird wohl nie langweilig.
Doch auch die Feder, aus der The Spy stammt, dürfte massgeblichen Einfluss haben. Autor und Regisseur ist Emmy-Preisträger Gideon Raff, von dem auch die Vorlage von Homeland – der US-Amerikanischen Adaption des israelischen Formats Hatufim (Kriegsgefangener) – stammt, deren erste Staffel Nervenkitzeln pur ist.
Die erzählerische Qualität tritt besonders deutlich zum Schluss der Serie hervor. Am Anfang stand das Ende und am Ende steht der Tod. Die letzte Folge zitiert die Anfangssequenzen mit der Landebahn im Regen, der aus dem Schlaf schreckenden Frau – Nadia – und dem klingelnden Telefon.
Endlich verstehen wir sie. Sie zeigen den letzten Tag im Leben von Eli Cohen und machen all die naiven Hoffnungen zunichte, dass sich das Unabwendbare vielleicht doch noch abwenden lässt. Zugegeben, ab dem Moment, in dem Eli in seiner Wohnung in Damaskus festgenommen wurde, wartete auch ich auf die Wendung: den erlösenden Anruf von irgendeinem Aussenminister, einen cleveren Schachzug des Spions, um sich doch noch zu befreien, einen Putsch, ein Erdbeben, einfach irgendetwas, das verhindert hätte, was schon längst feststand: Eli Cohen wurde am 18. Mai 1965 öffentlich gehängt, 10’000 Menschen verfolgten die Hinrichtung damals.
The Spy ist sehr gut gemachtes serielles Erzählen. Doch sehenswert machen die Netflix-Produktion vor allem die zahlreichen moralischen, psychischen und politischen Dimensionen – und den Eli-Schauspieler Sacha Baron Cohen, den man sonst als (nicht so witzigen) Komiker Ali G, Borat oder Brüno kennt.
Eli Cohen wird in der Serie zum Nationalhelden, der sich Märtyrer-gleich der Sache opferte. Sein Patriotismus wird still gefeiert, im Abspann etwa, wenn die obligatorischen Texttafeln mit einer Art «was seither geschah» den Bogen zurück zur Realität und Gegenwart schlagen. Nadia ist die liebtreue Ehefrau geblieben, hat nie mehr geheiratet und versucht bis heute die (verschollenen) sterblichen Überreste ihres Mannes aus Syrien nach Israel zu überführen. Der militärische Schlag zwei Jahre nach seinem Tod wird durch seine Bemühungen zum Erfolg. Dabei handelt es sich um die Eroberung der Golanhöhen des Sechstagekriegs, dessen Auswirkungen noch heute den Nahostkonflikt bestimmen. Bei all dem Phobos und Eleos, den Eli in der Serie lostritt, sind die Zwischentöne zum Abschluss der Serie eher leise. Man sieht einen jungen Mann an der gleichen Strassenkreuzung stehen, an dem die Mossad-Agenten testeten, ob er das Zeug zum Spion hat. Auch er besteht den Test – das Rädchen der Geschichte dreht sich ewig weiter.
Wer genauso wenig Konkretes über den komplexen Nahostkonflikt wie ich weiss: Im Buch 1967, Israels zweite Geburt (2009) des israelischen Historikers Tom Segev werden die Umstände, Ursachen, der Verlauf und die Folgen des Sechstagekriegs umfassend beleuchtet.