The New York that might have been

 

Ein Einleitungstext zu einer Ausstellung, wie er verführerischer nicht sein könnte: “Hidden behind New York City’s iconic skyscrapers, sprawling subway system and world famous public parks is the ghost of the city that could have been – a parallel metropolis that can reveal the city’s goals, strengths and challenges.”

So beginnt der Beschrieb zu Never Built New York, der Ausstellung, die bis Mitte Februar im Queens Museum zu sehen war. Banal ausgedrückt zeigte sie Pläne und Zeichnungen von Architekten, die es nicht bis zur Umsetzung geschafft haben – eine Sammlung verworfener Ideen. Doch viel mehr wurde hier das Glas als halb voll gefeiert. The New York that might have been – diese Stadt, die nur in Ideen besteht, hat etwas Mystisches.

Sonntags in New York
Es war Sonntag, der erste sonnige Tag nach diversen Schneestürmen und entsprechend voll waren die Strassen von Manhattan. Schon der Weg zur Subway-Station war eine Herausforderung, der Gehweg ist in Chinatown gleichzeitig Marktfläche und Schaufenster, und die Strasse wird zwischenzeitlich immer wieder zum Gehweg. Autos rollen in Schrittgewschindigkeit durch die Gasse, die die parkenden Wagen an beiden Seiten der Strasse freilassen. Menschen schieben sich aneinander vorbei, werden von unschierigen Koffern und Rollwägelchen, die Einzelne hinter sich herzerren oder vor sich herschieben, gebremst, auf die Seite gedrängt, aber nicht gestoppt, man weicht zwischen die Waren der Läden aus, den Schnittblumen, den Girlanden, dem frischen Fisch auf Eis, oder in die Rinne, wo sich die letzten matschigen Papierreste der Luftschlangen von chinesisch Neujahr gesammelt haben, man bleibt in Bewegung, immer bleibt alles in Bewegung, die Stadt rennt sich konstant selbst hinterher.

Es war der letzte Tag der Ausstellung im Queens Museum, was zugegebenermassen der Hauptgrund war, mich zur einstündigen Fahrt aufzumachen. New York scheint an solchen Tagen, als hätte man bei der Planung nur an die Gebäude gedacht und vergessen, die Menschen einzurechnen, die sich zwischen die Häuser zwängen müssen. Architektonisch scheint New York – zumindest in Manhattan – nur von Weitem seinem Weltruhm gerecht zu werden. Beobachtet man den stockenden Verkehr und die drängelnden Passanten, wirkt die Stadt mit sich selbst überfordert. Umso neugieriger war ich auf die alternativen Entwürfe, die Never Built New York versprach.

Die ausgestellten Pläne, Zeichnungen und Renderings umfassten einen Zeitraum von 150 Jahren und zeigten die beeindruckendsten Ideen, die es nie zur Umsetzung geschafft hattten. Grosse Namen waren vertreten, von Richard Morris Hunt aus dem 19. Jahrhundert, der den ersten Wolkenkratzer entwarf, Harvey Wiley Corbett, prominenter Vertreter des Modernismus und verantwortlich für diverse Büro-Megabauten der Stadt und Frank Lloyd Wright, dem wir das Guggenheim zu verdanken haben, bis hin zu zeitgenössischen Architekten wie Steven Holl, Diller Scofidio + Renfro und Daniel Libeskind, aus dessen Feder das One World Trade Center stammt.

Gerade angekommen, hiess es erst Mal Schlange stehen, denn scheinbar hatten sich auch andere den letzten Tag der Ausstellung nicht entgehen lassen wollen und sich auf den Weg durch den Flushing Meadows Corona Park gemacht, den man durchqueren muss, um zum Museum zu gelangen. Obwohl Sonntag und wettertechnisch einladend, war der Park das genaue Gegenteil von Manhattan: fast menschenleer und ruhig. Zwei Weltausstellungen hatten in den letzten Jahrzehnten hier stattgefunden, woran die gigantische Weltkugel direkt vorm Eingang erinnert. Hat die Stadt gar kein Planungsproblem, sondern nur eines der Verteilung der Bewohner und Besucher?

 

Eine Stunde später fand ich mich in der komplett abgedunkelten Galerie wieder, die vollgestellt war mit Modellen in den verschiedensten Massstäben, und die Wände mit Plänen tapeziert hatte. So erschlagend die Stadt in Wirklichkeit sein konnte, so explosionsartig entluden sich im Queens Museum die Entwürfe zur Parallelmetropole. Und es war ein pures Vergnügen. Allein die handgezeichneten Pläne in ihrer akribischen Präzision boten rein visuell schon genug, um den Rundgang spannend zu machen. Doch wenn man sich erst auf das Gedankenspiel einliess, was die akuraten Striche darstellten, glich der Besuch der Ausstellung tatsächlich dem einer anderen Dimension.

Man stelle sich nur mal einen schwimmenden Flughafen vor! Oder Steven Holls Parallax Towers aus dem Jahr 1990, eine Komposition von mehreren Wolkenkratzern, die aus dem Hudson River herausragen und zwischen denen man sich mithilfe von horizontale Aufzügen bewegen könnte! John Rinks Plan 1858 aus dem Central Park eine Kopie der Gärten von Versailles zu machen. Mal steht da ein ominöser Obelisk an einem Ende von Manhattan, dann stülpt sich eine gigantische Kuppel über die Mitte der Insel. Und die Entwürfe zu hoch verdichteten Wohnformen der futuristischen Gigametropole, die hier in Harlem stehen, sind schlichtweg ein Meisterwerk des architektonischen Wahnsinnsdenkens.

 

Die Ausstellung war in drei Teile gegliedert und steigerte sich nach der vollgepackten Galerie: durch einen kleinen Gang und eine Glastüre gelangte man in eine riesige Halle, die die ganze Stadt enthielt. New York lag einem hier tatsächlich zu Füssen, in Form eines gigantischen Modells (1:1200), dem grössten der Welt. Das Panorama of the City of New York besteht aus 895’000 einzelnen Gebäuden und ist am Boden eines einzigen grossen Raums verteilt, an dessen Rand ein höher gelegener Steg mit Glasboden verläuft, über den die Besucher die Stadt von allen Seiten betrachten können. Kleine Flugzeuge an Fäden heben von den verschiedenen Flughäfen ab und eine Zeitschaltuhr dunkelt den Raum nach ein paar Minuten ab, um die Nacht zu symbolisieren, die aus dem Modell ein kleines Lichtermeer macht.

 

70 verschiedene nie gebaute Projekte hatten es in das Modell geschafft und wurden an den Orten gezeigt, die ursprünglich für sie vorgesehen waren. Im dritten Teil der Ausstellung waren schliesslich sehr klassisch Projekte der Umgebung präsentiert und mir wäre nicht einmal aufgefallen, dass das ein separater Bestandteil war, hätte ich nicht im Anschluss im Programmheft darüber gelesen. Nach all dem Staunen und der Faszination fiel dieser eher didaktische Part ab, was als Ausklang aus der Welt der Utopien und Parallelwelten aber nicht weiter gestört hat.

Träumen ist erlaubt
Die Faszination von Utopien oder dem, was die Welt alles verpasst hatte, trug durch die ganze Ausstellung. Never Built New York machte sich einen der stärksten Antriebe zum Vorteil: die menschliche Neugier. In der architektonischen Überschwänglichkeit steckte ein grosses Mass an Problembewusstsein für Dinge, die sich auch in der gebauten Realität New Yorks noch nicht lösen liessen. Wohnungsknappheit, Bevölkerungsverlagerung, ökologische Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Ungleichheit sind das Fundament aus denen die Entwürfe der Stadt – den wirklichen und den unwirklichen – entstanden.

Auf dem Rückweg durch den Park liess mich die Wehmut nicht los; die Menge an genial wagemutigen Ideen, die es nie über das Papier hinausschaffen würden, war erschlagend. Doch Never Built New York rief eben dazu auf, die verpassten Gebäude und Projekte nicht als etwas zu sehen, das es nicht geschafft hatte, sondern seinen Zweck dadurch erfüllt, dass sich jemand gedanklich so weit gewagt hatte und die Grenzen der Architektur ein wenig weiter zu rücken versuchte. Die Ausstellung feierte damit Architektur in ihrem reinsten Sinne: dem Traum der selbst erbauten Realität. Und welches Bild passt besser zu New York als das – träumen ist schliesslich erlaubt.

 


 

Allen, die ein wenig mit mir in architektonischer Traum-New-York-Nostalgie schwärmen wollen, sei die Amazon Doku American Experience: New York empfohlen.

 

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